Samstag, 28. Mai 2016

Chancen kommen und gehen

Ausgeschlafen starte ich heute in den Tag. Körperlich bin ich fit, mental bin ich nicht auf der Höhe. Ich fahre los, mache unnötig viele Kaffee- und Teepausen obwohl ich gar keine Pausen benötige. Das Wetter ist durchwachsen, immer wieder gibt es intensive Schauer, Regenklamotten an, Regenklamotten aus. Ein Tag zum vergessen. Selbst viele tolle Begegnungen können mich heute nicht richtig aufheitern: ich bekomme von einem ehemaligen Profiradfahrer seine isolierte Trinkflasche geschenkt, werde zu einer Tasse Tee eingeladen, erhalte als Gratis-Proviant zwei Cookies sowie von einer netten Dame ein Angebot bei ihr zu übernachten.
Doch dann passiert etwas eigenartiges.

- Rückblende -
Ich kann mich noch genau daran erinnern, als ich vor vier Tagen früh morgens im gemütlichen Hostel in Gunnison am Tisch sitze und Kerry eine Nachricht auf einen Zettel schreibe. Kerry ist so früh am Morgen noch nicht im Hostel und wir haben es verpasst uns am vorherigen Abend zu verabschieden. Sie hatte mich bei meiner Anreise eingecheckt und willkommen geheissen. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden, zusammen gekocht und gemeinsam am Lagerfeuer gesungen. Dem handgeschriebenen Dankeschön füge ich meine Kontaktdaten bei und lege noch zehn Dollar hinzu, wir hatten abgemacht die Kosten für das Abendessen aufzuteilen. Den Zettel gebe ich einem anderen Gast, mit der Bitte die Botschaft weiterzuleiten. Dann fahre ich los.

Und heute? Ich fahre einen langgezogenen Hügel hinauf, bin nicht sonderlich schnell. Kurz nachdem es aufhört zu regnen, genau beim hundertsten Kilometer an diesem Tag, hält ein Auto neben mir. Kerry strahlt mich an. Sie ist auf dem Weg zu einem Geschäftstermin in Kentucky. "Ich kann dich mitnehmen und in Missouri rausschmeissen. Kansas sieht genauso aus wie hier, landschaftlich verpasst du sicherlich nichts."
Chancen kommen und gehen. Mein Verstand weiss, dass dieses Zusammentreffen reiner Zufall ist, nicht erklärbar und ohne kausalen Zusammenhang. Ich höre auf mein Bauchgefühl und entscheide mich, die nächsten 1000 Kilometer durch das flache, windige Colorado und Kansas mit dem Fahrrad zu fahren.
Es folgt eine längst überfällige Abschiedsumarmung und Kerry und ihr Wagen verschwinden hinter der Kuppe. "Was bin ich doch für ein Idiot. Warum bin ich nicht mitgefahren?!" - ich wünsche mir in diesem Moment sehnlichst, dass die Entfernung zwischen mir und Kerry möglichst schnell wächst.
Mein Blick schweift nach rechts in die Ferne und bleibt am Horizont an einem kleinen Regenbogen hängen. Dieser Regenbogen weicht nicht von meiner Seite bis ich mein Etappenziel in Limon erreiche, lange 25 Meilen.

1 Kommentar:

  1. Ines, du bist einfach die beste Verrückte, die ich kenne ;-)))) Ich freu mich so für dich, dass alles wunderbar läuft und fahre im Schlaf mit dir mit, hihi! Liebe Grüsse von Rosi und Jens aus dem heute-schon-wieder-verregneten Rickenbach!

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